Mit Komödien gewinnt man keine Festivals – diese Faustregel gilt seit diesem Samstag nicht mehr. Die Jury von Cannes hat Sean Bakers „Anora“ mit der Goldenen Palme ausgezeichnet. Der Film erzählt die Geschichte einer Striptease-Tänzerin in New York, deren Begleitung ein junger russischer Oligarchensohn für eine Woche mit 10.000 Dollar bezahlt. Dann bittet er um die Hand der Frau. Er will dem Zugriff seiner Eltern per Heiratsgreencard entkommen, sie der Armut als Tochter russischer Einwanderer mithilfe dieses Märchenprinzen. Aber die Oligarcheneltern schicken den Jungvermählten prompt ein Trio auf die Fersen – bestehend aus einem orthodoxen Priester und zwei Schlägern, einer tollpatschig, der andere gutmütig –, das für die Annullierung der Ehe sorgen soll.
Es folgt eine nächtliche Tour durch die Nachtclubs und Bars von Little Odessa. Baker lässt seine Figuren in absurd witzige Situationen tappen und hält bei allem Humor die schwierige Balance, mit „Anora“ zugleich an den sozialkritischen Ton seiner Vorgängerwerke wie „The Florida Project“ oder „Tangerine“ anzuknüpfen. Die Herzen von Publikum und Kritik eroberte der Film mit der kühnen Hauptdarstellerin Mikey Madison und seinen pointierten Dialogen bereits bei seiner Premiere.
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Der Jury unter Vorsitz von US-Regisseurin Greta Gerwig scheint es nicht anders ergangen zu sein. Es sei ein Film, „der unsere Herzen erobert hat, der uns lachen ließ, der uns unendlich hoffen ließ, der uns das Herz brach und dabei nie die Wahrheit aus den Augen verlor“, sagte Gerwig in der Jurybegründung. Die Goldene Palme für Baker setzt diesmal also kein kulturpolitisches, aber doch ein filmästhetisches Zeichen.
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Sonderpreis für iranischen Regisseur Mohammad Rasoulof
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Der Große Preis der Jury, die zweitwichtigste Auszeichnung des Festivals, ging an den Film „All We Imagine as Light“, in dem die indische Regisseurin Payal Kapadia von zwei Krankenschwestern erzählt, die in prekären Verhältnissen in Mumbai nach Liebe und einem guten Leben suchen.
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Einen Sonderpreis vergab die Jury an den iranischen Regisseur Mohammad Rasoulof. Vor rund einem Monat war er vor dem Regime aus seiner Heimat nach Europa geflohen und am Freitag zur Premiere seines Films „The Seed of the Sacred Fig“ nach Cannes angereist. So klar wie nie zuvor positioniert sich Rasoulof in diesem Film gegen Irans Regierung, lässt Originalaufnahmen der Proteste aus dem Jahr 2023 in seine fiktive Handlung einfließen und zeigt wie junge Frauen und Männer von Sicherheitskräften blutig niedergeknüppelt werden.
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Die Dokumentaraufnahmen geben der Handlung zusätzliches Gewicht, die fiktive Geschichte über einen Regierungsbeamten, der mit seinen Töchtern über die Maßnahmen während der Demonstrationen in Konflikt gerät, verdeutlicht das Ausmaß, in dem das Regime selbst Familien zersetzt. Der Sonderpreis der Jury für das beste Drehbuch würdigt diese Leistung.
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Als ungewöhnlich kann auch die Entscheidung der Jury angesehen werden, einem Film gleich in zwei Kategorien auszuzeichnen – in den Vorjahren galt es in Cannes als Praxis, je Film nur eine Trophäe zuzulassen. Den Preis für die beste Darstellerin teilen sich in diesem Jahr Adriana Paz, Zoe Saldana, Selena Gomez und Karla Sofía Gascón für ihre Arbeit in „Emilia Pérez“, einem Musical über die Frauwerdung eines brutalen mexikanischen Drogenbosses.
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Gascón, die diese Hauptrolle übernahm, ist die erste Transfrau, die in Cannes einen Hauptpreis erhält. Zudem wurde der Film des französischen Regisseurs Jacques Audiard mit dem Preis der Jury ausgezeichnet.